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Thema: Insurance & Reinsurance
Zeitung: NZZ
Lesezeit: 4 Min
28.12.2020

Versicherte werden besser geschützt

Das neue Versicherungsvertragsgesetz bringt Vorteile im Grossrisikobereich und für Konsumenten. 

Das auf liberalem Gedankengut und dem Prinzip der Vertragsfreiheit aufgebaute Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder als revisionsbedürftig kritisiert worden. Doch es dauerte bis ins Jahr 2004, um eine erste nennenswerte Teilrevision zu verwirklichen. Die vom Bundesrat im Jahr 2011 vorgelegte Totalrevision des Gesetzes erlitt vor dem Parlament dagegen Schiffbruch, und der Bundesrat wurde in der Folge beauftragt, das Gesetz nur «soweit nötig» zu revidieren.

Das Ergebnis ist die aktuelle Gesetzesnovelle, die einerseits den Schutz der Konsumenten verstärkt und andererseits die Möglichkeit eröffnet, für professionelle Versicherungsnehmer angemessene Vereinbarungen zu treffen. Nach Ablauf der Referendumsfrist hat der Bundesrat das Inkrafttreten des revidierten VVG auf den 1. Januar 2022 festgelegt. Die Versicherer haben also noch ein Jahr Zeit, ihre Policen und Allgemeinen Versicherungsbedingungen anzupassen.
 

Mehr Konsumentenschutz

Zu den markantesten Neuerungen zählt das direkte Forderungsrecht des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers. Ein solches ist bisher nur in einigen Spezialgesetzen vorgesehen, namentlich im Strassenverkehrsgesetz, wonach der Geschädigte seine Ansprüche unmittelbar gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Motorfahrzeughalters geltend machen kann. Neu gilt es generell: Wer einen Haftpflichtanspruch hat, kann diesen Anspruch direkt gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Schädigers geltend machen. Ob sich die Situation des Geschädigten damit tatsächlich verbessert, bleibt abzuwarten. Denn anders als im Strassenverkehrsgesetz kann der Versicherer ihm seine gesetzlichen und vertraglichen Deckungseinreden entgegenhalten. Lediglich im Bereich obligatorischer Haftpflichtversicherungen ist ein teilweiser Einredenausschluss vorgesehen.

Das revidierte VVG enthält darüber hinaus zahlreiche für den Versicherungsnehmer günstige Neuerungen. Dazu zählt die Zulässigkeit der Rückwärtsversicherung, das heisst des Rückbezugs der Vertragswirkungen auf einen Zeitpunkt vor dessen Abschluss, sofern ein versicherbares Interesse bestand und der Versicherungsnehmer nicht wusste oder wissen musste, dass das befürchtete Ereignis bereits eingetreten war.

Von Bedeutung sind ausserdem die Einführung eines Widerrufsrechts, wonach der Versicherungsnehmer seine Offerte zum Vertragsabschluss oder das Akzept binnen 14 Tage widerrufen kann. Oder aber der Wegfall der Genehmigungsfiktion, wonach der Versicherungsnehmer binnen vier Wochen nach Empfang der Police deren Berichtigung zu verlangen hat, andernfalls ihr Inhalt als genehmigt gilt.

Wenn die Leistungspflicht nicht dem Grundsatz nach, sondern nur in der Höhe umstritten ist, trifft den Versicherer neu eine Pflicht zur Leistung von Akontozahlungen. Eine weitere Verbesserung der Rechtsposition der Versicherten liegt in der Einführung eines ordentlichen Kündigungsrechts, wonach der Versicherungsvertrag auf das Ende des dritten Versicherungsjahres gekündigt werden kann, selbst wenn er auf längere Zeit vereinbart wurde. In der Krankenzusatzversicherung nach VVG steht das ordentliche Kündigungsrecht und das Kündigungsrecht im Schadenfall nur noch dem Versicherungsnehmer, nicht aber dem Versicherer zu. Ausserdem verjähren die Forderungen aus dem Versicherungsvertrag neu erst nach fünf anstatt wie bisher bereits nach zwei Jahren.
 

Vertragsfreiheit zwischen Profis

Eine zentrale Schwäche des bisherigen VVG liegt in der Gleichbehandlung von Konsumentenverträgen und Verträgen im Industrie- und Grossrisikobereich. Hier stehen sich wirtschaftlich gleich starke Vertragspartner gegenüber, und der Versicherungsnehmer bedarf keines besonderen Schutzes. Der Konsument muss das Kleingedruckte akzeptieren, der Risk Manager eines börsenkotierten Unternehmens nicht. Wo der Konsument zu Recht den Schutz des Gesetzgebers vor ihn benachteiligenden Vertragsbedingungen reklamiert, muss es im Industrie- und Grossrisikobereich möglich sein, abweichende Lösungen zu vereinbaren. Diese bewirken möglicherweise Einschränkungen der Versicherungsdeckung, sind dafür aber für den Versicherungsnehmer im positiven Sinn prämienrelevant. Der Gesetzgeber hat diesem Bedürfnis mit der Schaffung der Rechtsfigur des professionellen Versicherungsnehmers Rechnung getragen. Diesem gegenüber gelten die absoluten und relativ zwingenden Bestimmungen des VVG nicht. Sie können auch zu seinen Ungunsten vertraglich abgeändert werden.

Das Gesetz regelt im Detail, wer unter den Begriff des professionellen Versicherungsnehmers fällt. Dazu gehören etwa Vorsorgeeinrichtungen und Banken, Unternehmen mit professionellem Risikomanagement und generell Unternehmen mit einer Bilanzsumme von 20 Millionen Franken oder einem Nettoumsatz von 40 Millionen Franken oder einem Eigenkapital von 2 Millionen Franken.

Biblisches Alter

Mit dieser konzeptionellen Neuerung besteht Vertragsfreiheit dort, wo sich die Vertragsparteien auf Augenhöhe begegnen, und Konsumentenschutz dort, wo ein Machtgefälle besteht, welches diesen Schutz notwendig macht. Es ist davon auszugehen, dass die Versicherer ihre Bedingungswerke im Hinblick auf das Inkrafttreten der Gesetzesnovelle entsprechend anpassen werden.

Der Teilrevision ist bereits erhebliche Kritik erwachsen, unter anderem aus Konsumentenschutzkreisen, denen die Neuerungen zu wenig weit gehen. Diese übersehen aber, dass überbordender Konsumentenschutz sich ins Gegenteil verkehren kann, da er sich zulasten des Kollektivs der Versicherten auswirken kann, namentlich durch höhere Prämien. Trotz aller Kritik – auch aus den Reihen der Wissenschaft – bestehen gute Aussichten, dass sich das neue VVG in der Praxis bewähren wird, ebenso wie das Gesetz als Ganzes, das mit seinen bald 113 Jahren ein für Massstäbe moderner Legiferierung geradezu biblisches Alter aufweist.

Christoph K. Graber ist Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter der Versicherungs- und Rückversicherungsabteilung, Reto M. Jenny Partner in der Versicherungs- und Rückversicherungsabteilung der Zürcher Kanzlei Prager Dreifuss.