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Thema: Corporate & M&A
Autor: Guy Deillon
Zeitung: NZZ
Lesezeit: 4 Min
09.02.2024

Wie woke müssen Unternehmen sein?

Auch in der Schweiz werden die Organe von Firmen zunehmend gedrängt, sich zu positionieren – das wird oft kritisiert

Der Hashtag, den Tausende gehässige Blogger verwenden, um sich über Manager zu echauffieren, die in ihren Unternehmen mehr Wert auf sogenannte Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekte legen, heisst: «gowokegobroke». Nach Meinung der Kritiker ist das Engagement primär dem Zeitgeist geschuldet und geht zu stark auf Kosten der Rentabilität.

Doch nicht nur in den sozialen Netzwerken, auch in der Geschäftswelt selbst findet die Debatte um das Konzept der Wokeness statt. Der Begriff polarisiert auch hier. Einige Unternehmen bemühen sich, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Diversität (oder auch Environmental, Social und Governance, kurz ESG) in den Vordergrund zu stellen. Andere fragen sich hingegen, wie weit diese Bestrebungen gehen dürfen. Schliesslich sollen die Kernziele des Unternehmens nicht beeinträchtigt werden. Und dann gibt es noch solche – wie beispielsweise Blackrock-CEO Larry Fink –, die eine Wende vom Saulus zum Paulus und wieder zurück gemacht haben, da ihnen die Debatte um Wokeness und ESG entglitt.

Sicher ist: Business-Wokeismus und sein Antagonist, der ESG-Skeptizismus, erfordern mit Blick auf die Führung eines Unternehmens mehr Aufmerksamkeit. Denn die Frage, ob sich das Management vollständig auf den kurzfristigen Gewinn seiner Aktionäre konzentrieren oder die Interessen anderer Stakeholder berücksichtigen sollte, beschäftigt die Gesellschaft seit dem Schwarzen Freitag von 1929.

Heute belegen zahlreiche Studien die höhere Profitabilität von Diversity-sensiblen Unternehmen. Wobei Kritiker gerne einwenden, profitablere Unternehmen könnten sich die Pflege der weichen Faktoren halt einfach besser leisten. Die am häufigsten gehörten Kritikpunkte bei der Berücksichtigung von ESG-Faktoren lauten: Auferlegung moralischer Verpflichtungen, zweckfremde Verwendung von Kapital aus Unternehmen und – in der Folge – die Verringerung der Renditen von Investmentfonds, insbesondere von Pensionskassen.

Kunden geben die Richtung vor

Wie sieht denn die Faktenlage aus? Im Schweizer Obligationenrecht sind die Pflichten des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung zusammengefasst. Mitglieder der Gremien müssen ihre Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt ausüben und die Interessen des Unternehmens in guten Treuen wahren. Heute haben einige Unternehmen eine Klausel zu ihrem statutarischen Zweck hinzugefügt, der festschreibt, dass sie nach Schaffung von langfristigem, nachhaltigem Wert streben. Die Notwendigkeit einer solchen Präzisierung wird – abgesehen von Marketingaspekten – nicht von den Aktionären diktiert, sondern von den Geschäftspartnern, den Kunden und auch von der Herausforderung, junge, qualifizierte und motivierte Mitarbeiter zu finden. Und nicht zuletzt auch von den scharfen Beobachtern in der Aktivistenszene.

In der Praxis muss jedes Verwaltungsrats- oder Direktionsmitglied die Relevanz der ESG-Faktoren verstehen, um langfristig nachhaltigen Wert schaffen zu können. Dabei geht es auch um konkrete Chancen, Risiken und eine robuste Interessenabwägung. Schon bevor die drei Buchstaben ESG auftauchten, haben erfolgreiche Unternehmer diese Faktoren bereits in ihre Entscheidungsfindung einbezogen.

Die Managementkurse aller führenden Universitäten integrieren seit längerer Zeit die Beobachtung von Umwelt- und Gesellschaftstrends in ihre Strategiemodelle. Denn ein Unternehmen bewegt sich in einem sozioökonomischen Umfeld und kann nicht vollkommen isoliert wirtschaften. Es geht darum, das Rendite-Risiko-Verhältnis zu berücksichtigen.

In Bezug auf die Umwelt wird ein ressourcenbewusstes Unternehmen, das wenig von fossilen Brennstoffen abhängig ist, der Volatilität der Energiepreise besser standhalten. Langfristig ausgerichtete Investoren haben das verstanden. Immer mehr Kapital- und Kreditgeber richten ihre Entscheide danach aus: Profit ist nicht der primäre Antrieb für ein Unternehmen, sondern die Folge von gutem Geschäftsgebaren.

Viele Faktoren schwer messbar

Dennoch sind Firmen nicht in der Pflicht, mit ihren Aktivitäten die Werte und Kultur ihrer Stakeholder aktiv zu formen. Es ist umgekehrt: Unternehmer hören von ihren Anspruchsgruppen, wie sie sich zu ändern haben. Die Wichtigkeit von ESG-Faktoren zeigt sich nämlich nicht nur in der Geschäftswelt, sondern auch im Alltagsleben. Heute werden Eltern von ihren Kindern zunehmend aufgefordert, nachhaltiger und inklusiver zu handeln, und dieser Trend spiegelt sich in den Erwartungen an Unternehmen. Die junge Generation, die am Familientisch für ihre Werte eintritt, sind die zukünftigen Mitarbeiter, Kunden und Investoren.

Sind die ESG-Kriterien perfekt? Natürlich nicht. Während etwa CO2-Emissionen objektiviert werden können, gibt es viele schwer messbare Faktoren, die für die Umwelt berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus sind Governance- und soziale Faktoren sehr subjektiv geprägt. Die Übersicht zu behalten, ist schwer.

Wer hat also den grössten Einfluss auf die Verbesserung der ESG-Bilanz? Der, der seine Gelder in einen grünen Fonds investiert, Patagonia-Aktien erst an- und dann weiterverkauft? Oder der, der in den Fonds eines Aktionärsaktivisten wie Jeff Ubben investiert hat? Ubben gelang es, den Verwaltungsrat des Ölkonzerns Exxon zu stürzen und die ESG-Strategie auf die Agenda des Konzerns zu setzen. Jede Investition in ESG-Vorbilder bedeutet umgekehrt, dass geächtete Unternehmen weniger Mittel bekommen, sich zu verbessern.

Man kann die Art und Weise kritisieren, in der ESG-Faktoren analysiert werden. Denn immer nur über ESG zu reden, ist keine Garantie für eine bessere Welt. Doch zum guten Management eines Unternehmens gehört es heute, Ressourcen sparsam einzusetzen, die Schwächsten fair zu behandeln und den Stakeholdern zuzuhören. Selbst wenn man dafür als woke verunglimpft wird.