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Thema: Insurance & Reinsurance
Zeitung: NZZ
Lesezeit: 4 Min
16.09.2024

Der Gesetzgeber ebnet den Weg für autonomes Fahren

Technologieaffine Autofahrer freuen sich auf autonome Fahrzeuge, doch wer haftet bei einem Unfall?

Während Appollo Go seine Robotaxis in zehn chinesischen Städten grossflächig bei Versuchsfahrten einsetzt, entwickelt Renault Minibusse für Shuttledienste an Grossveranstaltungen und baut Rimac den Verne, das erste europäische Auto ohne Lenkrad und Pedale. Ganz so schnell rasen wir aber nicht in die lenkradfreie Zukunft. Tesla musste sich vor Gericht für im autonomen Fahrmodus eingetretene Unfälle verantworten, während die Cruise Robotaxis in San Francisco behördlich verboten wurden – zu gefährlich für den Strassenverkehr.

Die fortschreitende Entwicklung des autonomen Fahrens stellt auch den Gesetzgeber vor neue Herausforderungen. Mit einem angepassten Strassenverkehrsgesetz (SVG) und der vom Bundesrat im Oktober 2023 in die Vernehmlassung gegebenen Verordnung über das automatisierte Fahren (AFV) rückt die Schweiz einen Schritt näher heran an die Realität autonom fahrender Fahrzeuge auf öffentlichen Strassen. Die neuen Regelungen sollen im Verlaufe des Jahres 2025 in Kraft treten. Doch was bedeuten sie genau?

Das revidierte SVG und die neue AFV schaffen den rechtlichen Rahmen für die Zulassung und Nutzung autonomer Fahrzeuge. Der deutsche Verband der Automobilindustrie definiert sechs Stufen des automatisierten Fahrens, von Stufe null ohne Unterstützung bis Stufe fünf mit vollständiger Automatisierung. In den niedrigeren Stufen null bis zwei muss der Fahrer ständig eingreifen und das Fahrzeug überwachen, während in den höheren Stufen drei bis fünf die Kontrolle zunehmend vom Automatisierungssystem übernommen wird, wobei in der höchsten Stufe kein menschlicher Eingriff mehr erforderlich ist. Das Astra hat diese Definition für die Schweiz übernommen.

Lenker kann Kontrolle abgeben

Während aktuell das Gesetz noch verlangt, dass der Fahrzeugführer das Fahrzeug jederzeit beherrschen müsse, werden mit den neuen Regelungen Automatisierungssysteme der Stufen drei bis fünf ermöglicht: Die Fahrerin oder der Fahrer kann damit in bestimmten Situationen die Kontrolle teilweise bis vollständig an das Fahrzeug abgeben. Gemäss dem neuen Artikel 25b SVG kann der Bundesrat regeln, unter welchen Voraussetzungen Fahrzeugführer von ihren Pflichten entbunden werden.

Gemäss der vom Bundesrat nun vorgeschlagenen AFV soll der Fahrzeugführer in bestimmten Fällen nur noch eine überwachende Funktion einnehmen oder – bei vollständig autonom fahrenden Fahrzeugen – gar keine direkte Kontrolle mehr ausüben müssen. Vorausgesetzt ist natürlich, dass das Automatisierungssystem eine Typengenehmigung erhalten hat, was umfassende Nachweise zur Funktionsfähigkeit des Automatisierungssystems bedingt. Gänzlich autonome Fahrzeuge, die keinen Lenker benötigen, dürfen nur auf festgelegten Fahrstrecken zugelassen werden und müssen durch einen Operator beaufsichtigt werden.

Das derzeitige Haftungsregime bleibt konzeptionell unverändert bestehen. So ist bei einem Unfall nach wie vor der Halter eines Fahrzeuges in der Pflicht, der gemäss Art. 58 SVG verschuldensunabhängig haftet. Allerdings werden die Pflichten der Fahrzeugführer, die nur bei verschuldeter Pflichtverletzung haften, in Abhängigkeit vom Automatisierungsgrad des Fahrzeugs gelockert. Bei Fahrzeugen der Stufe 3 ist der Fahrzeugführer etwa nur noch verpflichtet, die Kontrolle zu übernehmen, wenn das System dies verlangt oder eine Fehlfunktion auftritt. Gleichzeitig bleibt jedoch die Herstellerhaftung nach dem Produktehaftpflichtgesetz bestehen. Hersteller könnten haftbar gemacht werden, wenn eine Fehlfunktion des Automatisierungssystems zu einem Unfall führt.

Für die Versicherungs- und die Automobilbranche bringt das autonome Fahren Neuerungen. Obwohl die Halterhaftung unverändert bleibt, könnten in der Praxis vermehrt Regressforderungen der Versicherer gegen die Hersteller von Automatisierungssystemen auftreten. Dies liegt daran, dass Geschädigte – wie bisher – aufgrund des direkten Forderungsrechts zunächst den Haftpflichtversicherer des Fahrzeughalters in Anspruch nehmen werden.

Der Ball liegt bei der Industrie

Im Rahmen des Regresses versucht die Versicherung sodann, die an den Geschädigten direkt ausbezahlte Versicherungsleistung ihrerseits erhältlich zu machen. Da die Verantwortung beim Fahren zunehmend vom Fahrzeuglenker hin zum Automatisierungssystem verlagert wird, dürfte sich bei Unfällen auch die Frage stellen, ob ein Systemfehler den Unfall verursacht hat und der Hersteller, der in der Regel über ein grosses Portemonnaie verfügt, in die Pflicht genommen werden könnte. Damit dürfte die Haftung des Herstellers an Bedeutung gewinnen.

Auch in Zukunft dürften komplexe Haftungsfragen entstehen, insbesondere wenn mehrere Parteien – Halter, Fahrzeuglenker, Hersteller, Operator und Versicherung – und neue Technologien involviert sind. Die Tatsache, dass das Produktehaftpflichtgesetz die Besonderheiten von Robotik und künstlicher Intelligenz nicht vollständig abdeckt, könnte zusätzliche Unsicherheiten schaffen. Die EU plant bereits eine Überarbeitung der entsprechenden Richtlinien, was auch für die Schweiz relevant werden könnte.

In der Schweiz hat der Gesetzgeber die Grundlagen für technische Innovationen im Strassenverkehr geschaffen; daneben basiert das Haftungsregime auf Altbewährtem und wartet nicht mit überraschenden Neuerungen auf. Der Ball liegt nun bei der Automobilindustrie, zulassungsfähige Automatisierungssysteme zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, die beim Konsumenten auf eine Nachfrage stossen und denen vertraut werden kann. Nur so lassen sich die eigentlichen Ziele der Neuerungen erreichen, nämlich die Sicherheit im Strassenverkehr zu erhöhen, den Verkehrsfluss zu verbessern und Haftungsfragen gar nicht erst entstehen zu lassen. Gelingt dies, dürften letztlich auch die Versicherungen und Prämienzahler entlastet werden.