2 Beim kollektiven Rechtsschutz herrscht Stillstand | Prager Dreifuss
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Thema: Dispute Resolution
Autor: Martin Heisch
Zeitung: NZZ
Lesezeit: 3 Min
19.11.2025

Beim kollektiven Rechtsschutz herrscht Stillstand

Während Europa Sammelklagen einführt, bleiben Kläger in Schweizer Massenverfahren weiterhin sich selbst überlassen

Bereits im Frühjahr ist der Nationalrat auf die Vorlage des Bundesrates für einen Ausbau der Sammelklage in der Schweiz gar nicht erst eingetreten. Nun hat sich in der vergangenen Herbstsession auch der Ständerat diesem Verdikt angeschlossen. Beide Kammern erteilten dem kollektiven Rechtsschutz damit schon auf Stufe der Eintretensdebatte eine Absage. Die reflexartige Warnung vor einer «Klageindustrie» und einer «Amerikanisierung» des Schweizer Rechtssystems wog offenbar schwerer als die Aussicht, mit einem modernen kollektiven Rechtsschutz den Zugang zum Recht und die Attraktivität des Justizstandorts Schweiz zu stärken. Damit steht fest: Echte zivilrechtliche Sammelklagen wird es mittelfristig in der Schweiz nicht geben.

In vielen europäischen Ländern zeigt sich ein anderer Trend. In den Niederlanden wurde bereits 2005 ein Gesetz für die kollektive Abwicklung von Massenschäden geschaffen, das auf ein spezielles Gruppenvergleichsverfahren setzt. Dieses Modell fand international grosse Beachtung und diente teilweise auch dem nun gescheiterten Vorhaben in der Schweiz als Vorbild. In der Europäischen Union wurde die sogenannte Verbandsklagerichtlinie erlassen, mit der sämtliche EU-Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung in das nationale Recht einzuführen.

Auch im Vereinigten Königreich bestehen vergleichbare Mechanismen. Vor dem englischen High Court in London startete diesen Herbst eine «group litigation», wobei im Rahmen der Dieselaffäre erneut rund 1.6 Millionen Autobesitzer gegen führende Autohersteller klagen. Es handelt sich dabei um die bisher grösste Sammelklage Grossbritanniens.

Die Schweiz bleibt damit eine der letzten Rechtsordnungen Westeuropas, die über keine institutionalisierte Form des kollektiven Rechtsschutzes verfügen. Wohl besteht hierzulande seit jeher eine gewisse Skepsis gegenüber Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes. Die Vehemenz, mit der die Räte eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Vorlage verweigerten, erstaunt aber.

Finanzielle Hürden

Kollektiver Rechtsschutz ermöglicht eine effiziente Anspruchsdurchsetzung, ohne die Grundprinzipien des Zivilprozesses in Frage zu stellen. Da der Gang vor Gericht für den Einzelnen oftmals zu teuer ist, scheitern viele Klagen bereits an finanziellen Hürden. Da aber die Prozesskosten bei steigendem Streitwert prozentual sinken, käme ein gemeinsames Vorgehen für jeden einzelnen günstiger. Zudem lassen sich durch die Anspruchsbündelung Skaleneffekte bei der anwaltlichen Vertretung und der Beweismittelbeschaffung vor dem Prozess erzielen, was die proportionalen Kosten weiter senkt.

Auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive gibt es gute Gründe, Lücken beim kollektiven Rechtsschutz zu schliessen. Wenn Ansprüche aufgrund der Rahmenbedingungen gar nicht eingeklagt werden, entstehen Fehlanreize und Rechtsverstösse können sich lohnen. Hingegen geraten jene Wettbewerber, die sich an die Regeln halten, ins Hintertreffen. Ein Blick auf die Dieselaffäre zeigt dies exemplarisch. Schweizer Geschädigte, die sich nicht einem Massenverfahren im Ausland angeschlossen haben, sind trotz identischer Ausgangslage weitgehend ohne Entschädigung geblieben.

Unbegründet ist auch die Warnung vor amerikanischen Verhältnissen. Das hiesige Prozesssystem enthält ausreichend «checks and balances», um negative Auswüchse von Massenverfahren zu unterbinden. Anders als in den USA muss hierzulande der Verlierer sämtliche Kosten des Prozesses tragen. Dies schliesst auch die Rechtsvertretungskosten der Gegenpartei ein. Ausserdem dürfen Anwälte in der Schweiz nicht auf (reiner) Erfolgsprovisionsbasis entschädigt werden.

Ferner gibt es im Schweizer Prozessrecht keine unberechenbaren Jury-Entscheidungen. Es kommt hinzu, dass die beteiligten Prozessfinanzierer eine gründliche Vorabklärung der Prozesschancen vornehmen, weshalb eine Finanzierung nicht vielversprechender Fälle gar nicht erst in Frage kommt. In der Summe würde es sich deshalb wirtschaftlich nicht lohnen, missbräuchliche Fälle nach amerikanischem Muster in der Schweiz zu führen.

Ob die bestehenden Möglichkeiten zur kollektiven Rechtsdurchsetzung ausreichen, wie im Parlament behauptet, muss sich nun zeigen. Eine behelfsmässige Lösung wurde im Rahmen der Dieselaffäre erprobt. Die Stiftung für Konsumentenschutz liess sich die Ansprüche von rund 6'000 Betroffenen abtreten und klagte in eigenem Namen gegen den Autohersteller und den Importeur. Dieses sogenannte Abtretungsmodell scheiterte jedoch daran, dass das Bundesgericht die Befugnis der Stiftung zur Prozessführung verneinte. Dass sich diese als Klagevehikel zur Verfügung gestellt habe, entspreche nicht ihrem statutarischen Zweck.

Was auf dem Spiel steht

Ein Blick nach Deutschland und Österreich zeigt, dass das Abtretungsmodell für gewisse Bereiche eine taugliche Alternative zu echten Sammelklagen sein kann. Dort konnten bereits vor Implementierung der EU-Verbandsklagerichtlinie vielversprechende Erfahrungen mit dem Vorgehen gesammelt werden. In Österreich ist in diesem Zusammenhang seit über zwei Jahrzehnten gar von der «Sammelklage österreichischen Rechts» die Rede. Es ist denkbar, dass das Modell nach dem Scheitern der Vorlage nun auch in der Schweiz eine grössere Rolle spielen könnte. Fest steht aber auch, dass nach dem erfolglosen Versuch der Stiftung für Konsumentenschutz weiterhin gewisse Berührungsängste mit diesem Ansatz bestehen.

Müssen Rechtssuchende aus der Schweiz bei Massenschadensfällen künftig vermehrt den Weg ins Ausland gehen, um ihre Ansprüche durchzusetzen? Dieses Szenario stünde dem international hochangesehenen Justizstandort Schweiz nicht gut an. Entscheidend ist, ob die bestehenden Instrumente der Anspruchsbündelung konsequenter genutzt oder weiterentwickelt werden können. Gelingt dies nicht, so wären die Leidtragende nicht nur Schweizer Konsumenten und KMU, sondern auch international tätige Unternehmen. Auch diese werden ein geordnetes Verfahren vor einem Schweizer Gericht einer Sammelklage im Ausland vorziehen.