Zurück
Thema: Dispute Resolution
Zeitung: NZZ
Lesezeit: 4 Min
30.04.2024

Kommt jetzt der künstliche Jurist?

KI führt in der Justiz zu neuen Wegen – bereits 36 Prozent der Rechtsgelehrten arbeiten mit der technischen Innovation

Künstliche Intelligenz (KI) beherrscht die Debatten in Politik, Wirtschaft und Medien. Drei Angebote stechen dabei hervor: Googles Gemini, Microsofts Copilot und der derzeitige Branchenprimus Chat-GPT von Open AI. Man kann ihnen Fragen stellen, und sie antworten sofort. Sie helfen, Texte zu schreiben, Zusammenfassungen zu erstellen oder sogar Bilder zu zeichnen.

Die Qualität der Interaktion wird stark von den Prompts beeinflusst. Das sind die Fragen und Anweisungen, die die Benutzer diesen Chatbots geben. So kann Chat-GPT etwa angewiesen werden, die Perspektive eines Juristen einzunehmen und ein Rechtsdokument oder einen Vertrag über den Kauf eines Unternehmens zu erstellen. Daraufhin erstellt Chat-GPT verschiedene Vertragsklauseln, die durch Inputs ergänzt oder modifiziert werden. Wie häufig KI bereits eingesetzt wird, zeigt eine Umfrage von Lexis Nexis, wonach 36 Prozent der befragten Juristen angaben, KI für ihre tägliche Arbeit zu nutzen.

Noch nicht wirklich intelligent

Eine aktuelle Studie von Goldman Sachs geht sogar davon aus, dass in Zukunft 44 Prozent der Arbeit von Anwälten und Juristen in den USA und Europa von KI übernommen wird. Wirklich intelligent sind diese Chatbots allerdings noch nicht. Auch wenn Chatbots Wörter und ganze, verständliche Texte und Sätze ausspucken, steckt dahinter ein zahlenbasiertes neuronales Netzwerk mit 176 Milliarden Verknüpfungen und Optionen (Tendenz steigend).

Doch nicht immer ist alles richtig, was die KI als Antwort präsentiert. Googles Gemini machte kürzlich mit Darstellungen schwarzer Wehrmachtssoldaten auf sich aufmerksam. Das als «Halluzination» bezeichnete Phänomen beschreibt Vorfälle, in denen die KI ein vermeintlich überzeugendes Ergebnis präsentiert, das nicht durch Fakten gestützt wird.

Den Chatbot auf falsche Antworten hinzuweisen, kann man sich aber sparen. Bis jetzt lernt er nur im Trainingsmodus, der nur Entwicklern und Programmierern zugänglich ist. Anwaltskanzleien und Gerichte zählen deshalb zu den Skeptikern fortschreitender Digitalisierung, wie auch eine Legal-Tech-Umfrage zeigt. Einige Kanzleien lassen sich ihre KI-Lösungen von spezialisierten Programmierern massschneidern. Als Datenbasis dienen die eigenen juristischen Schriftsätze und Dokumentationen. So soll verhindert werden, dass der Chatbot aus den Weiten des Internets Phantasielösungen kreiert und das wertvolle Know-how der Kanzleien auf fremden Servern landet.

Doch die Technik hat enorme Vorteile, unabhängig davon, für welches Modell man sich auch entscheiden mag. Das aufwendige Zusammenfassen von Urteilen und Literatur, Heraussuchen von Fundstellen und Entwerfen einfacher Verträge kann der KI überlassen werden. Dadurch bleibt mehr Zeit für die anspruchsvolleren Aufgaben, was im besten Fall in Effizienzgewinn resultiert. Auf jeden Fall wird die Entwicklung
von KI die Arbeitsweise von Juristen und Anwälten spürbar verändern.

Erfolg mit fremden Inhalten

Neben den vielen Vorteilen, die KI bietet, müssen allerdings auch die damit verbundenen Risiken und Herausforderungen berücksichtigt werden. Mit ihrem zunehmenden Einfluss auf die Arbeitswelt tauchen weitere Fragen und Probleme auf, besonders im Urheber-, Datenschutz- und Strafrecht. Derzeit klagt die «New York Times» gegen Open AI und deren Investor Microsoft. Letzterer hat sich für 10 Milliarden US-Dollar den Open-AI-Algorithmus zur Verwendung in Microsoft-Produkten gesichert. Der Verlag macht verschiedene Urheberrechtsverletzungen geltend.

Der Vorwurf erinnert an die jahrelangen Rechtsstreitigkeiten zwischen Google und Verlagen weltweit. Denn Chat-GPT greift auf das Wissen des Verlags der «New York Times» zu, nutzt deren Datenbanken mit Millionen von Artikeln und präsentiert sie den eigenen Nutzern, ohne dafür Lizenzgebühren zu zahlen. Das wirft grundsätzlich die Frage auf, wie mit der Kommerzialisierung von KI umgegangen werden soll. Will man mit seinen Inputs eine KI füttern, die so besser wird und ihr Wissen anderen Nutzern zur Verfügung stellt? Wird der vermehrte Einsatz von KI die beruflichen Fähigkeiten von Juristen beeinträchtigen oder durch die Kombination mit technologischer Effizienz die juristische Arbeitswelt nachhaltig verbessern? Sicher ist: Stoppen lässt sich die Entwicklung nicht mehr – denken wir also positiv.