2 Bundesgericht klärt Rechtsschutz bei verfrüht abgeschlossenen Beschaffungs­verträgen | Prager Dreifuss
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Thema: Competition & Regulatory Matters
27.08.2025

Bundesgericht klärt Rechtsschutz bei verfrüht abgeschlossenen Beschaffungs­verträgen

Das Bundesgericht hat entschieden, dass im Fall von Beschaffungsverträgen, welche nach einem IVöB-Beschaffungsverfahren verfrüht abgeschlossen wurden, grundsätzlich primärer Rechtsschutz zu gewähren sei. Die kantonalen Beschwerdeinstanzen müssen in diesen Fällen folglich prüfen, ob ein solcher Vertrag ausnahmsweise für nichtig erklärt, oder Vergabestellen angewiesen werden können, Beschaffungsverträge aufzulösen oder anzupassen. Nur wenn das nicht möglich ist, gibt es bloss Schadenersatz. Wichtig ist: Der Schadenersatz ist unter Umständen nicht auf die erforderlichen Aufwendungen, die dem Anbieter im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Einreichung seines Angebots erwachsen sind, beschränkt.

Sachverhalt und Ausgangslage

Ist das Vergabeverfahren abgeschlossen und der Zuschlag erteilt, möchte der Auftraggeber das Vorhaben in der Regel auch möglichst rasch umsetzen. Der Volksschulgemeinde Wängi (TG) konnte es offenbar nicht schnell genug gehen. Noch am ersten Morgen nach Ablauf der Beschwerdefrist gegen den Vergabeentscheid, d.h. am 5. September 2023 um 10 Uhr, wurde der Beschaffungsvertrag mit der Zuschlagsempfängerin abgeschlossen. Über die beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau eingereichte Beschwerde wusste die Volksschulgemeinde Wängi zu diesem Zeitpunkt noch nichts, obwohl sie, so das Bundesgericht, annehmen musste, dass die wegen angeblicher Formfehler aus dem Verfahren ausgeschlossene Anbieterin, Beschwerde erheben würde.

Mit Schreiben vom 8. September 2023 erteilte das Verwaltungsgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung mit dem Hinweis, dass bis zu einem entgegengesetzten Entscheid kein Beschaffungsvertrag abgeschlossen werden dürfe. Am 13. März 2024 hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde gut und stellte die Rechtswidrigkeit des Ausschlusses der Beschwerdeführerin fest. Die Frage der Rechtmässigkeit des Vertragsabschlusses brauche gemäss Verwaltungsgericht jedoch nicht beantwortet zu werden, da sich der Rechtsschutz im konkreten Fall in der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ausschlusses vom Vergabeverfahren erschöpfe. Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts erhob die ausgeschlossene Anbieterin subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht und rügte den Entscheid des Verwaltungsgerichts in verschiedener Hinsicht. Das Bundesgericht erliess sein Urteil am 19. Mai 2025 (2D_14/2024). 

Die Rechtsfrage

Das Urteil beleuchtet die Frage, welches Schicksal einen verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrag ereilt bzw. ob in einem solchen Fall primärer (Art. 58 Abs. 1 BöB bzw. IVöB) oder sekundärer Rechtsschutz (Art. 58 Abs. 2 – 4 BöB bzw. IVöB) zu gewähren ist. Ersterer wahrt die Chance der Beschwerdeführerin auf den Zuschlag, indem die Beschwerdeinstanz in der Sache selber entscheiden oder diese mit verbindlichen Anweisungen zurückweisen kann. Letzterer sieht den Ersatz der für die Vorbereitung und Einreichung des Angebots getätigten Aufwendungen vorsieht. Dem Gesetzeswortlaut zu Folge greift der sekundäre Rechtsschutz dann, wenn der Vertrag mit der berücksichtigten Anbieterin bereits abgeschlossen wurde. Aber nicht immer, wie das Bundesgericht nun klarstellte.

Das Urteil bezieht sich auf ein kommunales Vergabeverfahren, das der IVöB untersteht. Es dürfte aber generell auch Signalwirkung für Vergaben im Staatsvertragsbereich nach dem BöB haben.

Zentrale Bestimmung – Standstill

Die sowohl im BöB (soweit den Staatsvertragsbereich betreffend) als auch in der IVöB enthaltene Standstill-Bestimmung (Art. 42 Abs. 2 BöB bzw. Art. 42 Abs. 1 IVöB) sieht vor, dass der Vertrag mit dem berücksichtigten Anbieter erst nach Ablauf der Frist für die Beschwerde gegen den Zuschlag abgeschlossen werden darf, es sei denn, die zuständige Beschwerdeinstanz habe einer Beschwerde gegen den Zuschlag aufschiebende Wirkung erteilt. Dabei müsse, so das Bundesgericht, feststehen, dass gegen einen Zuschlag entweder keine Beschwerde erhoben wurde oder einer solchen mangels entsprechenden Gesuchs oder aufgrund ablehnenden Entscheids der Beschwerdeinstanz keine aufschiebende Wirkung zukommt. Dies sei gewöhnlich erst einige Tage nach Ablauf der Beschwerdefrist der Fall. Die Musterbotschaft zur IVöB nennt diesbezüglich eine Frist von in der Regel fünf Tagen, die nach Ablauf der Beschwerdefrist beachtet werden müsse.

Wie vorne erwähnt, wurde der Beschaffungsvertrag bereits am Morgen des ersten Tages nach Ablauf der Beschwerdefrist unterzeichnet. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beschaffungsvertrags waren die Bedingungen für den Ablauf des Standstill somit noch gar nicht eingetreten. Nach Ansicht des Bundesgerichts und des Verwaltungsgerichts erfolgte der Vertragsschluss somit klar verfrüht und war damit rechtswidrig.

Bei Verletzung der Standstill-Bestimmung grundsätzlich primärer Rechtsschutz

Das Bundesgericht prüfte, ob die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach sich der Rechtsschutz im vorliegenden Fall in der blossen Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ausschlusses erschöpfe, dem Willkürverbot standhielt. Es verneinte und hielt fest, das submissionsrechtswidrige Verhalten der Vergabebehörde müsse nach Möglichkeit auf dem Weg des Primärrechtsschutzes sanktioniert werden. Dies, so das Bundesgericht, diene der Durchsetzung des Vergaberechts und gewährleiste die Effektivität des Rechtsschutzes.

In welcher Form dieser Primärrechtsschutz konkret zum Tragen komme bzw. welches Schicksal den verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrag ereile, seien, so das Bundesgericht, verschiedene Lösungsansätze denkbar. Es stellte fest, es handle sich hier um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Dennoch bliebt es in seinem Rückweisungsentscheid erstaunlich vage in der Diskussion dieser möglichen Lösungsansätze.

Es wies das Verwaltungsgericht an, die Nichtigkeit des verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrags zu prüfen und instruierte es aber einschränkend, Nichtigkeit könne nur ausnahmsweise angenommen werden, so etwa wenn strafrechtlich relevantes Verhalten wie Korruption hinzutrete. Liegen demgegenüber keine besonderen Umstände vor, die ausnahmsweise die Feststellung der Vertragsnichtigkeit rechtfertigten, müsse untersucht werden, ob der verfrüht abgeschlossene Beschaffungsvertrag aufgelöst oder verändert bzw. ob die Verwaltungsjustizbehörde die Vergabebehörde angewiesen werden könne, den betreffenden Vertrag aufzulösen oder zu verändern. Auch dies habe das Verwaltungsgericht zu prüfen.

Erst wenn feststehe, dass keine dieser Möglichkeiten verhältnismässig sei, d.h. der Primärrechtsschutz aufgrund der konkreten Umstände nicht zur Verfügung stehe, werde es im Ergebnis mit der Gewährung von Sekundärrechtsschutz sein Bewenden haben.

Allerdings öffnete das Bundesgericht zumindest für kantonale (und kommunale) Vergaben eine Tür für höheren Schadenersatz. Es hielt nämlich fest, dass der Schadenersatzanspruch bei verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsverträgen grundsätzlich nicht auf die erforderlichen Aufwendungen, die dem Anbieter im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Einreichung seines Angebots erwachsen sind, beschränkt sei. Vielmehr könne in solchen Fällen, in denen zusätzlich zu einer fehlerhaften Verfügung eine widerrechtliche und schädigende Handlung der Vergabestelle vorliegt, Schadenersatz nach Massgabe des einschlägigen (kantonalen) Verantwortlichkeitsrechts gefordert werden.

Bemerkungen und Fragezeichen

Das Urteil des Bundesgerichts stellt auf den ersten Blick eine willkommene Klärung der Frage dar, wie die erstinstanzlichen Gerichte mit einem verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrag umzugehen haben. Sie müssen umgehend superprovisorisch anordnen, dass die Umsetzung des fraglichen Beschaffungsvorhaben unterbleibt. Danach haben sie zu prüfen, in welcher Form primärer Rechtsschutz gewährt werden kann.

Die Anweisungen an das Verwaltungsgericht erscheinen zwar konkret, bleiben aber letztlich vage und wohl kaum umsetzbar. So wird die Hürde für die Annahme einer Vertragsnichtigkeit äusserst hoch angesetzt und dürfte nur ein Einzelfällen überschritten werden. Das Bundesgericht meint, die Nichtigkeitsfolge bringe grundsätzlich eine gewisse Rechtsunsicherheit mit sich und werde den im Einzelfall auf dem Spiel stehenden Interessen häufig nicht gerecht. Nichtigkeit scheidet damit faktisch aus. Somit hat das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob es angesichts des vertraglich Vereinbarten möglich und im jetzigen Zeitpunkt noch verhältnismässig erscheint, die Vergabebehörde anzuweisen, den Beschaffungsvertrag unverzüglich aufzulösen bzw. allenfalls sogar rückabzuwickeln. Dies hänge massgeblich davon ab, ob der Vertrag bereits vollständig vollzogen wurde und, falls nicht, ob er sich in verschiedene Etappen unterteilen lasse. Diese Prüfung dürfte letztlich ergebnislos enden, da weder das Verwaltungsgericht noch das Bundesgericht die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gewährten. Nach so langer Zeit dürfte das fragliche Bauprojekt – ein Holzelementbau inkl. Fassade für einen Kindergarten – längst realisiert sein.

Der zu Unrecht ausgeschlossenen Anbieterin wird das Urteil vermutlich keinen Primärrechtsschutz mehr bringen. Immerhin hat sie Aussicht auf möglicherweise höheren Schadenersatz.